Es wäre doch möglich gewesen Teil 2 – Josef Hartinger und Moritz Flamm

Der zweite Teil der Reihe soll sich um den bayrischen Jurist Josef Hartinger und den Mediziner Moritz Flamm drehen. Die Geschichte der beiden ist eng verbunden mit dem Umbruchsjahr 1933. Die Weimarer Verfassung war nach wie vor in Kraft und mit der Machtergreifung im Januar war weder automatisch über die zukünftige Staatsform entschieden noch automatisch der Führerstaat etabliert worden. Schließlich bildete Hitler am 30. Januar formal eine normale Regierung mit normalen Kabinett, welches sogar noch bis 1938 Kabinettssitzungen abhielt. Auch waren noch längst nicht alle Ämter mit Nationalsozialisten oder Sympathisanten besetzt. Einige Staatsorgane arbeiteten immer noch nach republikanischen Prinzipien. Auch Reichspräsident Hindenburg lebte noch. Dieser Umstand einer schleichenden Abschaffung demokratischer Prinzipien und Institutionen ermöglichte es Josef Hartinger, im Frühsommer 1933 den Lagerleiter des KZ Dachau in vier Fällen wegen Mordes anzuklagen. Das KZ Dachau wurde im März 1933 als erstes Konzentrationslager kurz nach dem Reichstagsbrand errichtet. Noch war die SS eher ein zusammengewürfelter Haufen und es sollte sich erst ein Jahr später entscheiden, dass die SS zukünftig die Rolle des parteieigenen Terrorapparats einnahm und nicht die SA. So bewachte die bayrische Landespolizei das noch kleine Lager in den ersten Wochen. Aber schon kurz darauf wurde die bayrische Polizei Stück für Stück von Einheiten der SS abgelöst. Am 12. April 1933 ging in der Staatsanwaltschaft beim Landgericht München ein Bericht über vier Todesfälle im KZ Dachau ein. Die Lagerleitung des KZ dachte, dass die behaupteten Selbstmorde der Insassen nicht hinterfragt würden. Das sah die Staatsanwaltschaft anders. Der Gerichtsmediziner Flamm und der stellvertretende Staatsanwalt Hartinger wurden daraufhin nach Dachau geschickt, um die Todesfälle zu untersuchen. Flamm und Hartinger stellten schnell fest, dass die drei Leichen die ihnen gezeigt wurden, alle an der Schädelbasis erschossen wurden und das alle 3 Männer (Rudolf Benario, Ernst Goldmann und Arthur Kahn) Juden waren. Die SS behauptete, die Männer seien auf der Flucht erschossen wurden. Die Wahrheit sah anders aus: Benario, Goldmann und Kahn wurden von dem Wachkompanieführer Hans Steinbrenner so lange mit einem Ochsenziemer (eine Art Peitsche) malträtiert, bis sie blutüberströmt zusammenbrachen. Am Abend übergab Steinbrenner die erschöpften Männer anderen SS-Angehörigen, die sie in den Wald führten und hinterrücks erschossen. Steinbrenner überlebte den Krieg und wurde wegen unzähligen Morden und Misshandlungen zu einer lebenslangen Zuchthausstrafe verurteilt. Nach seiner Haftentlassung beging er Selbstmord.

Flamm und Hartinger mussten bei ihren Besuchen in Dachau immer wieder neue Todesfälle untersuchen. So z.B. den von Sebastian Nefzger, welcher schlussendlich auch in die Anklage einging. Nefzger sollte Selbstmord begangen haben. Flamm und Hartinger entdeckten allerdings starke Verletzungen am Rücken und innere Blutungen. Ergebnis von Misshandlungen der SS. Auch der Fall von Alfred Strauß beschäftigte die beiden. Auch hier konnten Anzeichen schwerer Misshandlungen festgestellt werden. Der SS-Mann Johann Kantschuster behauptete Strauß auf der Flucht erschossen zu haben. Dies konnten Flamm und Hartinger widerlegen. Wahrscheinlicher ist, dass Strauß aus nächster Nähe von dem Alkoholiker Kantschuster erschossen wurde. Kantschusters Spur verliert sich trotz fehlender Fronteinsätze bereits 1943. Er ist nie wieder aufgetaucht. 


Ein weiterer Fall ist der des Kaufmanns Louis Schloss. Auch hier sprach die SS am 16. Mai 1933 von einem „Ableben durch Selbstmord“. Flamm, der wiederum nach Dachau geschickt wurde, untersuchte die Leiche von Louis Schoss drei Stunden und fertigte mehrere Fotos an. Diese zeigen die grausamen Verletzungen, welche die SS ihrem Opfer zugefügt hat. Nichts deutete auf einen Selbstmord durch Erhängen hin. Die Bilder sind heute im Archiv der KZ-Gedenkstätte Dachau. 


Nach wochenlanger Ermittlung und mehren Obduktionen an den Leichen entschloss sich Hartinger zu einem, auch im Jahr 1933 bereits mutigen Schritt: er erstellte eine Anklageschrift gegen den SS-Hauptsturmführer und Lagerkommandanten Hilmar Wäckerle und gegen den Kanzleiobersekretär Josef Mutzbauer. Für die Anklage musste er sich auf die vier eindeutigsten Morde beschränken, da sein Vorgesetzter Karl Wintersberger die Unterschrift für die Anklageschrift verweigerte. Schließlich fertigte Hartinger vier Anklagen an, in den Mordfällen an: Louis Schloss,  Sebastian Nefzger, Leonhard Hausmann, Dr. Alfred Strauss. 

Die Anklage im Fall Louis Schloss lautete folgendermaßen:


Ich erhebe die öffentliche Klage gegen unbekannte Täterwegen Verbrechens der Körperverletzung mitTodesfolge nach § 226 RStGB,

ferner gegen Wäckerle, H., Lagerkommandant, Dr. Nuernbergk, Lagerarzt, Mutzbauer, Kanzleiobersekretär;

sämtliche z. Zt. wohnhaft im Konzentrationslager Dachau,

wegen je eines Vergehens der Begünstigung nach § 257 RStGB.

Der Kaufmann Louis Schloss von Nürnberg, der sich im Konzentrationslager Dachau als Gefangener in einer Einzelhaftzelle befand, wurde am 16. Mai 1933 oder schon einige Zeit vorher von bis jetzt unbekannten Tätern, wahrscheinlich von Personen der Wachmannschaft des Konzentrationslagers Dachau, derart geschlagen, dass er am 16. Mai 1933 an den Folgen verstarb. Zum Zwecke der Vortäuschung eines Selbstmordes wurde Schloss mit einem Hosenträger nachträglich an einem Haken in seiner Zelle aufgehängt. Obwohl die Beschuldigten Wäckerle, Nuernbergk und Mutzbauer von dem Fall Kenntnis erlangten und über die Todesursache sich klar waren, unternahmen sie unter Missachtung ihrer Pflichten nichts, stellten vielmehr den Fall gegenüber der Staatsanwaltschaft und dem Gericht so hin, als ob es sich um einen einwandfrei festgestellten Selbstmord handle. Mutzbauer erklärte der Gerichtskommission, die im Lager zur Vornahme einer Leichenschau erschienen war, sogar, er sehe nicht ein, warum die Kommission im vorliegenden Fall tätig werden wolle, da Selbstmord ausser Zweifel stehe.

Ich beantrage Eröffnung und Durchführung der gerichtlichen Voruntersuchung und Erlassung einesHaftbefehls gegen die bekannten Beschuldigten wegen dringender Verdunkelungsgefahr.

München, den 1. Juni 1933 


Die Anklageschriften gelangten im Folgenden über das Justizministerium zum Innenministerium. Hier wurden sie, auch unter Intervention Reinhard Heydrichs, erfolgreich zurückgehalten. Heydrich antwortet auf wiederholte Anfragen der Justiz: 

Die vier Ermittlungsakten sind hier nicht in Einlauf gebracht. Trotz eingehender Nachforschungen konnte über den Verbleib der Akten hier nichts ermittelt werden. Ich werde jedoch die Nachforschungen fortsetzen und gegebenenfalls sofort Mitteilung machen.

Die ersten Mörder von Dachau und die ersten Mörder in deutschen KZs wurde schlussendlich niemals erfolgreich angeklagt. Zu sehr hatte sich das NS-System bereits in die Verwaltung und Justiz gefressen. Hartinger wurde genau wie sein Vorgesetzter in die Provinz versetzt. Der mutige Arzt Flamm, der die Obduktionen vornahm, wurde nicht mehr als Gerichtsmediziner herangezogen und überlebte zwei Mordversuche. Er starb unter ungeklärten Umständen im psychiatrischen Krankenhaus Egelfing-Haar. Die Anklagen Hartingers sollten die letzten Anklageschriften sein, die ein deutscher Jurist gegen SS-Wachmanschaften erhob.

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